Sie schlafen nicht zu wenig, sondern … Tipp des Monats zu Schlafstörungen

Bild: Tiere können problemlos 16 oder 18 Stunden pro Tag schlafen, für den Menschen ist manchmal schon die Hälfte zu viel.

Sie schlafen nicht zu wenig, sondern sie sind zu lang im Bett!

Ja, wer hört das schon gerne? Ich hatte mich bereits vor drei Jahren zum Thema Schlaf in meinem Praxis-Blog geäußert, aber das Thema ist ständig so aktuell (und die Einsicht der Betroffenen häufig spontan so gering), dass ich gerne nochmals dazu aufkläre.

(Hinweis: Ich beziehe mich hier vor allem auf Patient:innen aus meiner eigenen „typischen“ Klientel, also solche mit Depressionen, Angststörungen und Schmerzsyndromen. Falls Sie jetzt einwenden, das wäre vielleicht nur ein kleiner Teil der Betroffenen, möchte ich entgegnen: Auch unter den anderen Patient:innen, die z.B. eine Naturheilpraxis aufsuchen, sind viele, die nicht wahrhaben wollen, dass ihre Schlafstörungen mit unterdrückten Ängsten und depressiven Verstimmungen zu tun haben, je älter, desto wahrscheinlicher.)

Schlaf ist die beste Medizin. Wie wahr. Neben Ernährung und Bewegung ist Schlaf (oder allgemeiner Regeneration) die dritte Säule der arzneimittelfreien klassischen Naturheilkunde. Man muss nicht einmal Ganzheitsmediziner sein für diese Erkenntnis: Schlafmangel und fehlender Schlafrhythmus begünstigen akute und chronischen Erkrankungen.

Nur: Das überproportionale Herumhängen im Bett oder auf dem Sofa bedeutet keinesfalls Regeneration. Weniger ist mehr. Das wirksamste Medikament gegen Schlafstörungen kostet nichts und ist frei von Nebenwirkungen. Das wirksamste „Medikament“, durch unzählige Studien belegt und auch in einigen Kliniken gezielt eingesetzt, ist der Schlafentzug bzw. die Schlafbegrenzung: Die Betreffenden gehen zunächst für eine deutlich kürzere Zeit ins Bett, als sie eigentlich als benötigte Schlafzeit angeben. In der Regel gehen sie deutlich später ins Bett. Die Selbstregulation des Organismus ermöglicht schon nach kurzer Zeit einen effektiven Schlaf, dann kann die Schlafdauer Schritt für Schritt erhöht werden.

Was machen schlafgestörte Patient:innen häufig? Viele legen sich z.B. um 21 Uhr ins Bett, wenn sie anderntags um 7 Uhr aufstehen müssen. Kann das funktionieren? Nein. Also gibt es unruhige, schlaflose Stunden zwischendurch – in denen dann typischerweise eine sog. „Bedarfsmedikation“ eingenommen wird, das kann von niedrig dosierten Neuroleptika bis pflanzlichen Mitteln alles Mögliche sein. Gegen das Grundproblem helfen die Mittel nicht: Die Patienten würden eben gerne die Augen schließen, den Lebensschmerz betäuben, die inneren Stimmen zum Schweigen bringen und die Ängste loshaben.

Leider glauben nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern auch viele Ärztinnen und Ärzte, dass sich ausgeprägte Schlafstörungen „allein“ mit Schlafhygiene nicht erfolgreich behandeln lassen. Was daran stimmt: Wenn man unter Schlafhygiene nur die üblichen Maßnahmen versteht – wie Alkoholverzicht, regelmäßige Tages-Nacht-Struktur, tagsüber körperliche Aktivität, keine schwere Speisen vor der Nacht, nicht bis zur letzten Minute vor einem Bildschirm hängen usw. – dann ist dies zwar weiterhin sinnvoll, reicht aber oft nicht, wenn schon massive Schlafprobleme bestehen. Erst die Schlafbegrenzung als eine darüber hinausgehende, direkte Maßnahme hilft nachhaltig. (Besonders gut greift sie im Rahmen eines psychotherapeutischen Behandlungskonzepts, das die erwähnten tieferliegenden Themen aufgreift.).

Unter Betroffenen hält sich jedoch ziemlich hartnäckig die Illusion, es gäbe eine Abkürzung zur Seelenruhe, nämlich über Medikamente. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass ein beträchtlicher Teil dieser Menschen psychische Abhängigkeitsmuster haben und z.T. auch massive Erfahrungen mit Substanzabhängigkeiten (Alkohol, Medikamente, neuerdings vermehrt Cannabis). Der Griff nach der Pille liegt also nahe – bedeutet aber bestenfalls verlorene Zeit, schlimmstenfalls eine Gefahr für Leib und Leben.

Vorsicht: Drogen! Wirklich nachgewiesene schlaffördernde Wirkungen haben nur Benzodiazepine und sog. Z-Substanzen (die an den gleichen Rezeptoren wirken, aber anders). Beide sind ziemlich nebenwirkungsreich und machen binnen kürzester Zeit abhängig, d.h. auch die Wirkung lässt schon bald nach, was nach einer Dosissteigerung schreit – kommt Ihnen das bekannt vor? Drogen! „Benzos“ haben den Nachteil, dass man zwar schläft, aber sich anderntags gar nicht besonders erholt fühlt, höchstens erleichtert ist, überhaupt wieder schlafen zu „können“ bzw. ein paar Stunden nicht mit seinen Problemen konfrontiert zu sein. Z-Substanzen führen zwar nicht zu einem solch ausgeprägten Hang-Over, können aber Verwirrtheit und Halluzinationen tagsüber auslösen und nachts manchen Alptraum begünstigen.

Die Konsequenz: Finger weg! Offiziell und amtlich dürfen diese Medikamente maximal 4 Wochen angewendet werden. Viele Betroffene nehmen sie aber über Monate und Jahre ein. Und da die Entzugserscheinungen massiv sind …, wird weiter oder nach kurzem Entzugsversuch wieder eingenommen. Es braucht ärztliche Begleitung beim Absetzen – und Psychotherapie; dafür wiederum ist eine ausgeprägte Krankheitseinsicht und Therapiemotivation unerlässlich.

Typischerweise „schwören“ viele Patient:innen zu Beginn der Therapie: „Wenn ich wieder halbwegs normal schlafen würde, wäre ich nicht so depressiv und ängstlich.“ Es mag hilfreich sein, einem Teil von ihnen kurzfristig (!) Schlafmedikamente oder eben Antidepressiva mit einem Nebeneffekt auf Schlafneigung zu verordnen, in erster Linie aber auch dazu, um ihnen danach zu zeigen, dass es sich in der Regel andersrum verhält: Wenn Depressionen und Ängste sich bessern, werden auch die Schlafprobleme weniger.

Der Schlafentzug ist dabei nicht nur die effektivste „Medikation“ gegen Schlafstörungen, sondern nebenbei auch eine der besten psychotherapeutischen Maßnahmen, weil er den Patienten bewusst macht, welchen großen Einfluss sie selbst haben, das Ergebnis stärkt also ihr Selbstvertrauen, auch in den eigenen Körper.

„Herr Wagner, aber Sie sind doch auch Naturheilkundler. Halten Sie denn von pflanzlichen und homöopathischen Mitteln bei Schlafstörungen gar nichts?“ Jein. Genauer gesagt: Ich bin hin- und hergerissen. Der Vorteil pflanzlicher und homöopathischer Mittel ist, dass sie nicht abhängig machen. Außerdem ist ihr Nebenwirkungsprofil wesentlich harmloser. Sie wirken sanfter, daher sind sie mit einer gesunden Schlafhygiene eher vereinbar, d.h. sie können im Rahmen einer ganzheitlichen Behandlung schon einen Zusatzeffekt haben. Doch alleine (!) ist ihr Effekt bei schweren chronischen Schlafstörungen zu schwach, so dass die Patienten sich beklagen: „Das bringt bei mir nichts! Ich brauche etwas Richtiges …“ Man kann sich in der Tat mit diesen Mitteln nicht „abschießen“ wie mit Benzodiazepinen u.a. Psychopharmaka.

Also, nichts gegen Baldrian, Melisse, Lavendel, Hopfen und Passionsblume! Und doch, mein erster Rat würde lauten: „Warum versuchen Sie es nicht ganz und gar ohne etwas einzunehmen mit einem strikten Schlafhygieneplan, d.h. weniger Zeit im Bett zu verbringen?“ Dann kann bei Bedarf, also wenn mal ein einzelner Tag sehr stressig war oder die Aufregung vor dem nächsten Tag größer ist als sonst, immer noch etwas Pflanzliches hinzugenommen werden. Das wäre tatsächlich „Bedarfsmedikation“. Von dauerhafter Einnahme natürlicher Mittel halte ich dagegen nicht sehr viel. „Natürlich“ müsste vielmehr sein, dem Körper bei seiner Selbstregulation zu unterstützen. Ich habe schon etliche Patientinnen und Patienten diesbezüglich beraten, die mich hinterher mehr oder weniger entgeistert fragten: „Warum hat mir das bloß niemand früher gesagt?“

Hinweis: Das Absetzen von Arzneien kann zu schwerwiegenden Entzugserscheinungen mit unvorhersehbaren Folgen führen. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass weder in diesem noch in anderen Beiträgen des Blogs wastutdirgut.de dazu geraten wird, eigenmächtig Medikamente abzusetzen. Im Gegenteil rate ich auch und gerade bei Psychopharmaka zu Rücksprache mit einem Arzt und zu ärztlicher Begleitung.

Text: Christoph Wagner, 1. Vors. NHV Taunus

Foto: © Kavowo auf Pixabay

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