Das Thema geistert seit Wochen durch die Medien: Deutschland hat eines der teuersten Gesundheitssysteme Europas (und der Welt), aber die Deutschen werden nicht älter, sondern sterben jünger als ihre Nachbarn; da befindet sich Deutschland eher am Tabellenende. Hoppla. Und in den letzten 25 Jahren hat sich dieser Trend zur „Paradoxie“ noch verstärkt, d.h. im Vergleich zu einigen Nachbarländern ist es noch schlimmer geworden – der deutsche Mann stirbt im Durchschnitt 1,7 Jahre eher als Schweden, Spanier, Franzosen oder Finnen. Die deutsche Frau überlebt „den“ Mann zwar immer noch, aber nicht ihre Schwestern in Nachbarländern, sie tritt vielmehr im Schnitt 1,4 Jahre eher ab. Schuld ist häufig der Herz-Kreislauf-Tod oder im Fachjargon: kardiovaskuläre Ereignisse. Das Gute am Schlechten: Die Deutschen sterben im Durchschnitt etwas seltener an Krebs als die Nachbarn, weil sie oft gar nicht alt genug dafür werden.
Die Erklärung, die Experten für das Paradox abgeben sind z.T. plausibel, z.T. eher kurios bis absurd oder lustig, das hängt vermutlich vom Standpunkt des Betrachters ab. So heißt es, die Deutschen würden sich eben sehr auf das Gesundheitssystem und ihre Ärzte verlassen, so dass sie es mit der Versorge schleifen ließen – also die Verantwortung für ihre Gesundheit lassen sie lieber beim Weißkittel, statt sich gesund zu ernähren, ausreichend zu bewegen, Alkohol und Nikotin zu meiden. Als Naturheilkundler könnte man sagen: „Bitte sehr. Da habt Ihr’s mal wieder!“ Allerdings trifft die verbesserte Prävention in Nachbarländern immer nur punktuell oder in Bezug auf einzelne Faktoren zu: In Schweden wird deutlich weniger Alkohol konsumiert, in Skandinavien insgesamt mehr Sport getrieben, in Frankreich deutlich weniger geraucht, in Südländern teilweise mehr Gemüse gegessen. Aber dass die Länger-Lebenden allesamt Präventionseuropameister in allen wichtigsten Disziplinen wären, lässt sich echt nicht behaupten.
Vielleicht gibt es noch ganz andere wichtige Stellgrößen. Sie ahnen es? Jaja, der Stress. Darin ist Deutschland zumindest in Bezug auf Arbeitnehmer wohl immer noch Europameister: Nirgendwo in Europa scheint es so wenige Arbeitnehmer*innen zu geben, die sich niemals oder nur selten gestresst fühlen, und so viele, die sich regelmäßig gestresst fühlen. Allerdings soll es, wenn man die Gesamtbevölkerung untersucht und nicht nur den arbeitsbedingten Stress berücksichtigt, anders sein; da führen nach einer Studie Griechenland, Türkei und Portugal.
Wie steht es um Liebe, Partnerschaft und freundschaftliche Beziehungen? Weiß doch der psychosomatische denkende Ganzheitsmediziner, dass Herzprobleme manchmal mit Herzensthemen zusammenhängen. Eine Studie, deren Ergebnisse 2023 veröffentlicht wurden, ergab, dass die Beziehungen der Deutschen „statistisch“, also im Großen und Ganzen und im Vergleich, weniger liebevoll sind als in vielen Nachbarländern: Italien und Portugal schnitten deutlich besser ab, aber selbst die skandinavischen Länder landeten deutlich vor Deutschland, obwohl der allgemeine Trend der Studie lautete: je nördlicher, desto kälter sind die Beziehungen.
Ein weites Feld und viel Raum für Spekulation. Eine These konnte ich allerdings in der Diskussion der vergangenen Wochen nicht finden: Was, wenn es sich bei dem „Paradox“ gar nicht um ein solches handelt, sondern um eine durchaus logische Konsequenz? Was, wenn die Deutschen nicht früher sterben, OBWOHL sie eines der teuersten Gesundheitssysteme haben und überdurchschnittlich viele ärztliche Leistungen in Anspruch nehmen, sondern WEIL?! Nehmen wir ein prominentes Beispiel unter die Spekulationslupe.
In Deutschland werden pro Jahr fast 1,2 Millionen Herzkatheter-Eingriffe vorgenommen, ein weltweiter Spitzenwert. In der Folge von rein diagnostischen Herzkatheter-Untersuchungen sterben kurzfristig zwischen 1 und 2 % der Patient*innen, rechnen Sie das gerne mal in absolute Zahlen um – das ist ein ordentlicher Friedhof. Bei Herzkatheter mit operativen Maßnahmen (v.a. Stent setzen oder mit Ballon aufdehnen) gibt es etwa 4 % Todesfälle danach, die Rate liegt also nochmals höher, aber dabei besteht ja auch eine deutlich höhere Notwendigkeit für den Eingriff. Über die Notwendigkeit zu diagnostischen Zwecken lässt sich leichter streiten, nicht zuletzt weil es oft Alternativen mit weniger Eingriffstiefe gäbe (EKG, CT, Sonographie). Die häufigste schwerwiegende Nebenwirkung des Herzkatheters ist übrigens ein Nierenschaden, auch das wissen m.E. viele Betroffene und ihre Angehörigen nicht. Oder Sie wollen es nicht wissen; denn etwas Wahres ist ja schon dran, dass der deutsche Patient die Verantwortung für seine Gesundheit gern beim Weißkittel lässt (der längst Jeanshemd trägt).
Die Zahl solcher Untersuchungen hängt vor allem davon ab, wie viele entsprechend spezialisierte Zentren – sie nennen sich „Labore“ (fragen Sie mich nicht wieso) – es in der Region gibt. Also, sie variiert sehr stark! Nun müsste Folgendes leicht festzustellen sein: In Regionen mit mehr Herzkatheter-Laboren sterben mehr Menschen an diesen Eingriffen, weil es mehr Eingriffe gibt. Das wäre nicht weiter schlimm, außer für die Betroffenen (… !), wenn der Nutzen dieses Aufwands insgesamt für die Bevölkerung größer wäre als dieser Verlust. Theoretisch, wenn die Maßnahme grundsätzlich sinnvoll ist und ein eindeutig positives Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweist, müssten in den gleichen Regionen insgesamt deutlich weniger Menschen an Herz-Kreislauf-Tod sterben, obwohl die Zahl der durch die Untersuchungen erlittenen Verluste höher ist als in anderen Regionen. Tja, dummerweise finden sich dazu keine Zahlen. Interessiert es vielleicht nicht jene, die es zu entscheiden haben?
In einem Gesundheitssystem, dass entsprechend der Beschlüsse der zuständigen Gremien die Kostenübernahme für viele Eingriffe und Medikamente durch die Krankenkassen von vorneherein gewährleistet, erzeugt nicht unbedingt nur der medizinische Behandlungsbedarf die Zahl an Leistungen – sondern das Angebot generiert auch „Nachfrage“; d.h. den Patient*innen wird einiges nahegelegt, was vielleicht nicht so notwendig oder so sinnvoll ist wie behauptet. Keine Sorge, „die Kasse bezahlt das“. Davon geht der Deutsche aus, wenn er sein elektronisches Gesundheitskärtchen am Tresen des Empfangs abgibt. Manchmal sollte man sich aber besser Sorgen machen!
Kürzlich hat mir meine Schwester, die in Frankreich lebt, ihr Leid geklagt in punkto Gesundheitswesen. In Frankreich muss der durchschnittliche Patient bei vielen ärztlichen Leistungen erst in Vorleistung treten und bekommt sie dann teilweise erstattet, der Eigenanteil ist bisweilen erheblich. Ja, sicher, Deutschland ist aus sozialstaatlicher Sicht in mancherlei Hinsicht vorbildlich. Nebenbei bemerkt trifft dies auch auf die Versorgung mit psychotherapeutischen Leistungen im Ländervergleich zu. Für meine Schwester versuchte ich ein tröstendes Wort zu finden: „Das Gute am Schlechten in Bezug auf das französische System ist, dass Dir weniger Überflüssiges oder gar Schädliches angetragen wird.“ Und damit meinte ich nicht die Psychotherapie. 😉
Text: © Christoph Wagner (HP, Therapeut), Vors. des NHV Taunus
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