Es gibt Themen, die scheinen in der Naturheilkunde riesengroß, und werden von der Schulmedizin doch nur belächelt. Das allein taugt nicht als Qualitätskriterium, denn einige wenige Themen haben es schon aus der Zone des Belächeltwerdens herausgeschafft und gehören seit Jahren auch zum Standard der Schulmedizin, etwa das sog. Mikrobiom (früher unter dem altbackenen Namen Darmflora bekannt). Soweit ist es aber mit der sog. Übersäuerung, trotz immer wieder anderslautender Prophezeiungen einiger Ganzheitsmediziner, bisher nicht gekommen: Sie ist schulmedizinisch ein Randthema.
Die schulmedizinische Sicht lautet in etwa: Der menschliche Organismus braucht Säuren und Basen, stellt sie auch selbst her und kann sie im Großen und Ganzen selbst gut handeln, der sog. Säure-Basen-Haushalt ist kein Problem, wenn man von medizinischen Notfällen und Kuriositäten absieht. Diese Sicht ist im Wesentlichen zutreffend und wir sollten sie uns immer mal wieder vor Augen halten, bevor wir uns etwa den Säure-Basen-Haushalt zum einzigen Dreh- und Angelpunkt von Heilung erklären lassen. Aber vielleicht täte der Sicht etwas ganzheitliche Ergänzung gut.
Es gibt auch einige wenige Hochschulmediziner und Ernährungswissenschaftler, die das befürworten würden, denn auch nach Ihrem Kenntnisstand kann eine chronische Übersäuerung des Organismus zu Knochenschwund und Nierensteinen beitragen. Darüber hinaus wird sie mit einer ganzen Reihe von Gesundheitsproblemen in Verbindung gebracht: chronische Müdigkeit und Leistungsschwäche, Kopfschmerzen, Rheuma, Störungen des Immunsystems und sogar Depressionen.
Und was kann man dagegen tun? Eventuell würde es helfen, die Leistungsfähigkeit von Leber und Niere zu verbessern, um die Selbstregulation auch in diesem Bereich zu unterstützen. Wahrscheinlich hilft auch maßvolle körperliche Aktivität, denn bei Sport und Bewegung wird zum einen über verstärkte Atmung kurzfristig Säure abgeatmet, zum andern begünstigt die vermehrte Sauerstoffaufnahme basenbildende Stoffwechselprozesse.
Die bedeutendste Maßnahme scheint aber nach wie vor, eine den relativen Basenüberschuss begünstigende Ernährung zu sein. Allerdings, wie eine solche Ernährung aussieht, auch da gehen die Meinungen der (oft selbst ernannten) Experten auseinander. Ich befasse mich seit 30 Jahren immer mal wieder mit dem Thema und versuche hier darzustellen, was mir plausibel erscheint. Vorneweg noch der Hinweis, dass man säure- oder basenbildende Lebensmittel nicht am Geschmack erkennt – und auch nicht daran, ob sich nach dem Essen Sodbrennen einstellt. Die Magensäure ist jedenfalls lebensnotwendig und es ist keine gute Idee, sie dauerhaft zu unterdrücken; ein ganz eigenes, anderes Thema!
Tierisches Eiweiß, also Fleisch, Wurst und Käse, ist unbestritten der Hauptverursacher von Säureüberschüssen im Organismus. Tierisches Eiweiß wird aufgrund der schwefelhaltigen Aminosäuren sauer verstoffwechselt. Allein deshalb ist eine vegetarisch betonte Kost auch unter Säure-Basen-Aspekten zu empfehlen. Studien mit Teilnehmern an eiweißreichen Diäten (Low Carb) ergaben, dass die Übersäuerung im Laufe der Zeit zunimmt. Das entspricht auch einer historischen Perspektive: Schon in früheren Zeiten schon Rheuma, Gicht, Arteriosklerose usw. – jedoch vor allem bei jenen gehobenen Schichten, die gerne und reichlich dem Fleisch (und dem Alkohol) zusprachen.
Allerdings kann sich eine Ernährung mit viel Käse, vor allem Hartkäse (Edamer, Gouda, Emmentaler, Parmesan etc.) und Schmelzkäse, genauso negativ auswirken wie eine fleischbetonte Kost! Das wird häufig übersehen. Milch selbst ist zwar etwa neutral, viele Milchprodukte aber wirken je nach Höhe des Eiweißanteils säurebildend: Sahne und Yoghurt kaum, dagegen Quark stark. Dagegen ist pflanzliches Eiweiß, z. B. in Form von Hülsenfrüchten, nur schwach säurebildend, Sojaprodukte, auch in konzentrierter Form (Tofu), wirken sogar leicht basenbildend. Grüne Bohnen führen ebenfalls zum erwünschten Basenüberschuss.
Der effektivste Basenbildner ist Gemüse. Alle Arten von Gemüse führen zu einem basischen Ausgleich, einige mehr, andere weniger. Allerdings ist kein Gemüse derart stark basenbildend (gemessen auf 100 g Gemüse) wie eine entsprechende Menge Fleisch, Wurst oder Käse säurebildend ist. Lediglich Spinat könnte da mithalten, diesen soll man aber aufgrund des Oxalatgehalts nicht in größeren Mengen regelmäßig verzehren. Daraus resultiert die bekannte 80/20-Formel: Man soll 4-mal soviel basenbildendes Gemüse essen wie die Mengen an Säurebildnern, die man aufnimmt.
Etwas komplizierter ist die Lage beim Obst. In einem intakten Stoffwechsel und sofern Obst gut vertragen wird (keine Unverträglichkeiten vorliegen) werden die Obstsäuren oxidiert und die Mineralstoffe aus dem Obst können sich basenbildend auswirken. Ist dies nicht der Fall, verbleiben die Säuren im Organismus, der Urin wird zwar dennoch basischer, aber die Mineralstoffe dafür werden dem Organismus geraubt. An diesem Paradox sieht man schon, dass auch die Urin-Test-Streifen nicht die ganze Wahrheit verraten.
Beim Getreide könnte dies noch mehr der Fall sein: Die Mehrheit derer, die sich zum Säuren-Basen-Haushalt äußern stufen Getreide und Getreideprodukte als säurebildend ein und berufen sich u.a. auf die Teststreifen. Der Verzehr von Getreide führt tatsächlich zu einer renalen Säurelast (= die Niere scheidet mehr Säuren aus). Eine Minderheit von Säure-Basen-Experten meint, die kann auch Entsäuerung signalisieren: Wenn Säure über den Urin ausgeschieden wird, ist dies möglicherweise ein Zeichen dafür, dass etwas geschieht, worauf der Körper nur gewartet hat (Säure loszuwerden) – unter anderem dank Getreide.
Doch selbst wenn man jenen Autoren folgen würde, die Getreide für säuernd halten, muss man doch sagen: nur mäßig säuernd im Vergleich etwa zu Fleisch, Wurst und Käse! Befürworter des Getreides haben im Übrigen darauf hingewiesen, dass die Bekömmlichkeit und möglicherweise auch das Säure- oder Basenpotential von Getreide vom ausreichenden Kauen abhängt. Richtig ist zumindest, dass beim Kauen basischer Speichel freigesetzt wird. Vollgetreide hat eine insgesamt so positive Bedeutung für eine gesunde Ernährung, dass – unabhängig von einem möglicherweise leicht säuernden Charakter (den wir mit Jörgensen bezweifeln) – nicht zum Verzicht geraten werden sollte! Eine getreidebetonte Kost ist als Basiskost durchaus geeignet, sofern die Getreidearten individuell vertragen werden. Ich gehe hier z.B. von gekochtem Vollreis oder Hirse als Basisgetreide aus (also nicht von einem hohen Weizenanteil).
Wie steht es mit Kaffee und Zucker? Die Säureausscheidung über den Urin nach Zuckerkonsum ist gleich null, nach Kaffeekonsum wird der Urin gar basisch. Interessanterweise stuft aber selbst die Mehrheit jener Experten und Autoren, die sich beim Getreide auf die renale Säurelast berufen, Kaffee und Zucker als eindeutige Säurebildner ein. Da sollen auf einmal die Urinwerte nicht maßgeblich sein. Man beruft sich auf Erfahrung (!) und darauf, was im Stoffwechsel innen alles passiert, obwohl der Urin nicht saurer wird. Vielleicht könnte man ja auch einfach sagen: „Säure- oder basenbildend ist nicht das einzig wichtige Kriterium für eine gesunde Ernährung.“
Sabine Wacker, die den Begriff „Basenfasten“ geprägt hat – Verzicht auf säurebildende Lebensmittel für einen begrenzten Zeitraum –, unterscheidet zwischen „guten“ und „schlechten“ Säurebildnern. Lebensmittel, die Säure bilden, aber aufgrund ihrer Vitalstoffe für den Organismus wichtig sind (Vollgetreide und Nüsse), darf man nicht nur, sondern man soll sie sogar verzehren. Ihre Säureeffekte müssten eben durch andere Lebensmittel ausgeglichen werden. Ich halte dies für eine pragmatische Lösung, die eben beinhaltet, dass es neben „säurebildend“ und „basenbildend“ noch andere wichtige Kriterien gibt.
Text: © Christoph Wagner
Foto: © Marion Beraudias auf Pixabay