Ein langes Leben oder das rechte Maß

Soldaten haben wir viel in Sachen Lebensverlängerung zu verdanken – ich bin Kriegsdienstverweigerer –, vor allem etliche gut gemachte Gesundheitsstudien. Zuletzt hat das sogenannte Million Veteran Program, das ist die Auswertung der Gesundheitsdaten von mehr als 700.000 ehemaligen US-Militärangehörigen, für Aufsehen gesorgt: mit Schlagzeilen wie „20 bis 25 Jahre länger leben“. Dabei ist diese Botschaft eher eine Umkehrung der Studienergebnisse, die in erster Linie Hinweise darauf geben, wie man sein Leben effektiv verkürzt (!), nämlich vor allem mit geringer körperlicher Aktivität, mit Rauchen und der Abhängigkeit von Opioid-Schmerzmitteln, ein in den USA verbreitetes Problem; man kann davon ausgehen, dass auch bei uns die Abhängigkeit von Schmerzmitteln und anderen Medikamenten die Lebenserwartung drastisch begrenzt. Medikamente sind in den „hoch entwickelten“ Ländern die dritt häufigste Todesursache. (Aber lesen Sie das bitte nicht als Empfehlung, sofort und eigenmächtig Ihre Medikamente abzusetzen, auch das kann krass lebensverkürzend wirken.) Neben diesen Faktoren zeigten hoher Alkoholkonsum, schlechter Umgang mit Stress, mangelnde Schlafhygiene und ungesunde Ernährung eine starke lebensverkürzende Wirkung.

Mit der Frage, wie sich die Lebensspanne verlängern lässt, beschäftigen sich Medizin und Philosophie seit Menschengedenken. Im alten Griechenland gab es dafür die Lehre der Diätetik – die keinesfalls nur mit Ernährung (also Diät) zu tun hatte, sondern mit der Lehre vom rechten Maß. Den Begriff „Makrobiotik“ hatte schon Hippokrates von Kos (460-370 v.Chr.), der Begründer der Medizin als Wissenschaft, für Methoden der Lebensführung, die zur Langlebigkeit beitragen, verwendet.

In Europa wurde der Begriff um 1800 wieder aufgegriffen und nahezu populär gemacht, als Christoph W. Hufeland (1762-1836), der bekannteste Arzt der Goethe- und Aufklärungszeit, seinem Hauptwerk von 1796 diesen Titel gab: „Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“.  Er war nach langjährigem Studium vieler Berichte zu dem Schluss gekommen, dass ein Alter von 150 Jahren, bei günstigen Voraussetzungen sogar von 200 Jahren, prinzipiell möglich sei. Hui! In der Folgezeit ist die Medizin bescheidener geworden.

In den rund drei Jahrzehnten, in denen ich mich mit Naturheilkunde befasse, bin ich immer wieder auf die These von Medizinern und Wissenschaftlern gestoßen, 120 Jahre seien ohne Weiteres möglich, wie gesagt: allein durch gesunde Lebensführung (und bei einer entsprechenden Veranlagung), d.h. ohne genetische Tricks, die irgendwann die Grenzen verschieben könnten. Ich habe aber in dieser Zeit auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich die wenigsten Menschen hierzulande für ein so langes Leben (120 Jahre) interessieren, schon gar nicht, wenn sie dafür auf etwas verzichten müssten. Verstehen Sie dies und das Folgende bitte nicht als moralische Wertung.

Interessanter Weise verbinden viele Menschen gerade mit extremen Genüssen die Lebensfreude – und wenn man ihnen rät, die Extreme zu meiden oder zu reduzieren, erleben sie das so, als wollte man ihnen Lebensfreude nehmen. Da die Extreme aber, wie Hufeland sich ausrückte, die Lebenskraft auslaugen, schmälern sie auf Dauer auch die Lebensfreude. Ein Beispiel: Jemand, der reichlich Fleisch und Alkohol sowie vielleicht auch Süßigkeiten oder Softdrinks zu sich nimmt, spürt zwar direkt dabei und danach eine stimulierende Wirkung, insgesamt ist aber sein Stoffwechsel dauerhaft so überlastet, dass er keine solide Basis für Wohlbefinden und Lebensfreude bieten kann. In der gleichen Zeitungsausgabe, in der ich kürzlich über das Million Veteran Program las, fand sich eine Randnotiz unter „Aus aller Welt“ (aha), dass Starkoch Johann Lafer auf vegetarisch betonte Koste umgestiegen sei, nachdem ihn Arthrose und Gelenkschmerzen zum Umdenken gezwungen hätten. Da geht es also nicht unbedingt um das lange Leben, sondern einfach darum, wieder mehr Lebensqualität zu erlangen.

Einen Weg der Mitte zu beschreiben das war und ist letztlich das Bestreben aller diätetischen Lehren: das rechte Maß zu formulieren, den goldenen Mittelweg zu beschreiben – von Hippokrates über Hildegard von Bingen bis zu Hufeland und Kneipp. Bei den Beispielen von höchstem Alter ist Hufeland oft eine Art von Diät oder Fasten aufgefallen, die meisten hätten sich vor allem an eine pflanzliche Kost gehalten und insbesondere den Branntwein gemieden. Seine Tipps sind so unspektakulär, dass sie gerne überhört werden: „Die alte Regel bleibt also immer noch wahr: man höre auf zu essen, wenn man noch etwas essen könnte.“

Doch es geht all den genannten und ungenannten Diätetikern nicht nur um die Ernährung. Noch einmal Hufeland: Der Mensch könne sein Leben vor allem verlängern, indem er zurückhaltend beim Verbrauch der Lebenskraft sei – „das wichtigste Verlängerungsmittel“ – und indem er diese Kraft regenerieren helfe. Die Natur gebe uns die beste Anleitung dafür, wie sich exemplarisch am Schlaf zeige: „in dieser Pause liegt das größte Mittel zur Verlängerung“ des Lebens.

Auch dies klingt vielleicht banal. Diesen Einwand kannte schon Hufeland und konterte ihn: Ihm sei schon klar, dass von seinen Ratschlägen viele Ärzte, erst recht die Scharlatane mit ihren Wundermitteln und schließlich auch die „Verbraucher“ (würde man heute sagen) oder Patienten selbst nichts hören wollten. Die eine würden eben lieber etwas verschreiben oder verkaufen als vernünftige Medizin zu betreiben – und die anderen würden lieber etwas verschrieben bekommen oder kaufen.

Erfahrungsgemäß ist es kontraproduktiv, diätetische Beratung, sei es in Sachen Ernährung oder bei der gesunden Lebensführung, mit Moral zu verquicken. Wenn Klienten oder Patienten den Eindruck haben, sie sollen umerzogen werden, bewirkt man in der Regel das Gegenteil. Ein guter Berater oder Therapeut verbindet die Kritik am „System“ mit Verständnis für die, die darin leben und es immer neu erzeugen. Leichter gesagt als getan. Manchmal hilft die Selbsterkenntnis, dass es mit der eigenen „Makrobiotik“, dezent formuliert, auch nicht immer so weit her ist …

Text: © Christoph Wagner, www.wastutdirgut.de

Foto: © Gerd Altmann (geralt) auf Pixabay

 

Veröffentlicht in Tipp des Monats.